Autismus

Vor 25 Jahren hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 2. April zum Weltautismustag erklärt. In diesem Jahr wurde in Deutschland dazu die Kampagne „Zufriedenheit über die Lebensspanne“ veröffentlicht. Eine Mutter, die ihren Namen im Internet nicht genannt haben möchte, erzählt von ihrem Leben in Zufriedenheit mit ihrem autistischen Sohn.

 Inselbegabung: Zahlen

Sie ist Malerin mit Leib und Seele. Zu ihrem Leidwesen zeigt ihr Sohn keinerlei Interesse an Farbe und Pinsel. Seit Jahren versucht sie immer wieder, ihn für die Kunst zu begeistern. Aber er hat eine andere Leidenschaft: Zahlen. Er ist ein Zahlengenie. Er kann mehrstellige Zahlen im Kopf multiplizieren oder dividieren. Nennt man ihm eine Zahl wie 44153, weiß er in weniger als drei Sekunden: Sie ist teilbar durch 67 und durch 659. Sein Kopf funktioniert wie ein Taschenrechner. Auch Daten kann er sich extrem gut merken. Er weiß beispielsweise, wie viele Tage es noch sind bis Weihnachten 2026. Oder an welchem Datum geschichtliche Ereignisse stattgefunden haben. Die Daten hat er verknüpft mit den dazu passenden Fakten und Persönlichkeiten. Was er nicht kann: Zwischen den Zeilen lesen, die Fakten über die genaue Wortbedeutung hinaus verstehen, Emotionen mit den Fakten verbinden. Denn er ist einer von rund 800.000 Autisten in Deutschland.

 Autismus: Entwicklungsstörung

Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Sie tritt meist vor dem dritten Lebensjahr auf und zeigt sich häufig durch eingeschränkte soziale Fähigkeiten, Auffälligkeiten in der sprachlichen Entwicklung und in der nonverbalen Kommunikation sowie in eingeschränkten Interessen mit sich wiederholenden Verhaltensweisen. Viele autistische Menschen brauchen aufgrund ihrer Einschränkungen lebenslang Unterstützung.

Frühe Förderung 

Frühkindlicher Autismus lautete die Diagnose, die die Familie erhalten hat, als der Sohn im Kleinkindalter war. Der Mutter war früh aufgefallen, dass der Junge sich nicht altersgerecht entwickelte. „Es waren zuerst Kleinigkeiten: Er hat keinen Blickkontakt gehalten, nicht auf irgendwas gezeigt. Er konnte erst im Alter von zwei Jahren frei laufen und hatte Schwierigkeiten mit der Balance. Zuerst dachten wir, er ist ein Spätzünder“, berichtet die Mutter. Jahrelang ist sie mit ihm nach Offenbach-Langen ins Autismus-Therapieinstitut gefahren, anfangs zweimal pro Woche, später wöchentlich. Dort wurde er auf spielerische Art und Weise gefördert. Auch in einem besonderen Kindergarten war er gut aufgehoben. Dort arbeitete eine Logopädin mit ihm und es gab Bewegungstherapien im hauseigenen Schwimmbad. Dort wurde auch erstmals seine Inselbegabung festgestellt: Daten konnte er sich schon im Kindergartenalter erstaunlich gut merken.

Mutter als „Schulbegleitung“ 

Später ging der Schüler in eine normale Gesamtschule. In dem großen Schulkomplex gab es eine Sonderschulkasse, in der die Kinder in ihrem eigenen Tempo lernen konnten. „Die Lehrer waren zum großen Teil sehr gut“, sagt die Mutter. Nur in den Pausen habe er sich nicht wohl gefühlt. „Nicht alle Kinder hatten Verständnis für die Schwächeren aus der Sonderschulklasse. Ich bin täglich zur großen Pause in die Schule gefahren, um die Kinder zu beaufsichtigen – zehn Jahre lang“, erklärt sie. In der Schule hat der autistische Junge lesen und schreiben gelernt und auch seine Begabung wurde gefördert. Obwohl die Schulzeit zum Großteil gut war, gab es auch schlimme Situationen. Den Tod des damaligen Schuldirektors beispielsweise habe der Schüler gar nicht verarbeiten können. Danach sei er verhaltensauffällig gewesen und habe in die Schule für praktisch Bildbare wechseln sollen. „Dort wäre er aber total unterfordert gewesen“, erklärt die Mutter. Viele Lehrer hätten sich damals sehr für ihn eingesetzt, sodass er seine Schulzeit in der Gesamtschule abschließen konnte.

 Er passt auf Mama auf

„Der Begriff ‚Frühkindlicher Autismus‘ ist missverständlich. Man denkt dann, dass sich das verwächst, wenn er älter wird oder lange genug in Behandlung war“, sagt die Mutter. Dass dem nicht so ist, hat sie gelernt. Inzwischen ist ihr Sohn 46 Jahre alt. Beide leben zusammen in ihrem Haus. Familie haben die beiden nicht mehr. Unterstützung erfahren sie aus ihrem Freundeskreis und von den Nachbarn. „Unser Leben ist schön, er passt auf Mama auf“, sagt die Mutter.

 Die gemeinsame Zeit genießen

Trotzdem befindet sie sich in einem Zwiespalt: Sie sorgt sich, wie es mit ihrem Sohn weitergehen wird, wenn sie sich mal nicht mehr um ihn kümmern kann. Deshalb steht er auf der Warteliste für einen Platz in einer besonderen Wohnform der Behindertenhilfe Wetteraukreis (bhw). Er war schon oft zur Verhinderungspflege, um sich einzugewöhnen. Er hätte bereits umziehen können. Doch wenn dann ein Zimmer für ihn frei war, fiel die Entscheidung schwer. Die Mutter wünscht sich für ihren Sohn – und für sich selbst – mehr Vorlaufzeit. Deshalb warten sie weiter. Und genießen ihre gemeinsame Zeit: Sie gehen gern Kaffeetrinken, fahren Rad oder machen Ausflüge in der näheren Umgebung. Er hilft seiner Mutter im Garten, geht gern spazieren, liest in Lexika und schaut gern Fernsehen. Klassische Musik beruhigt ihn. Jeden Morgen fährt er mit dem Fahrdienst in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung der bhw. Hier arbeitet er seit dem 4.10.1994, wie er ohne nachzuschauen auswendig weiß. Er ist in der Kommissionierung tätig und hat unter seinen Kollegen gute Freunde gefunden. An der Arbeit wird er gefördert. Seine aktuellen Ziele sind, selbstständig mit dem Wagen Arbeit aus anderen Gruppen zu holen oder wegzubringen sowie sein soziales Verhalten zu stärken. „In der Werkstatt gefällt meinem Sohn, hier wird er so unterstützt, wie er das braucht“, weiß die Mutter. Sie ist überzeugt: „Unser Leben wurde uns auferlegt. Uns geht es gut und wir sind zufrieden.“