Jennifer Hruschka arbeitet mit Matthias Link im Wohnheim der bhw in Bad Salzhausen.

Alles ist anders für viele der rund 360 Angestellten der Behindertenhilfe Wetteraukreis (bhw). Corona hat die Arbeitsplätze durcheinandergewürfelt – und zwar mächtig. Aber das hat vor allem etwas Gutes.

Den Beschäftigten wird viel abverlangt: neue Einsatzorte, andere Arbeitszeiten und die Arbeit erst. Die Erzieherinnen aus der Kita Sonnenschein in Friedberg verpacken in den Reichelsheimer Werkstätten Besteck und Brot für Krankenhäuser. Die Gruppenleiter aus den Werkstätten, die normalerweise Menschen mit Behinderung fördern und die Arbeit anleiten, montieren und konfektionieren selbst oder bringen die Arbeit zu den Mitarbeitern in die Wohneinrichtungen. Die Angestellten aus den Tagesförderstätten sind auf die Wohneinrichtungen im Wetteraukreis verteilt und unterstützen die Fachkräfte dort. Menschen, die normalerweise einen Fahrweg zur Arbeit von 15 km haben, müssen jetzt mehr als die doppelte Strecke fahren. Andere, die normalerweise von 7 bis 16 Uhr arbeiten, sind nun im Schichtdienst, müssen Nacht- und Wochenenddienste absolvieren. Alle müssen extrem flexibel sein.

Wo sie gebraucht werden

Eigentlich sind sie Erzieherinnen in der Kita Sonnenschein in Friedberg. Jetzt packen sie in der Besteckverpackung an.

Eigentlich sind sie Erzieherinnen in der Kita Sonnenschein in Friedberg. Jetzt packen sie in der Besteckverpackung an.

Der organisatorische Aufwand ist enorm: Es werden Personallisten geführt, die täglich aktualisiert werden. Andreas Grau, Bereichsleiter für den Bereich „Gestaltung des Tages“ der bhw, der die beispielsweise die Werkstätten und Tagesförderstätten verantwortet, „jongliert“, schickt die Angestellten dorthin, wo sie aktuell am meisten gebraucht werden. Seit die Recyclinghöfe in der Wetterau wieder geöffnet sind, ist das beispielsweise die Elektroaltgeräte-Werkstatt der bhw in Stockheim. Hier brummt’s. So viele alte Elektrogeräte wie jetzt standen noch nie auf dem Hof. Täglich werden 15-18 Tonnen angeliefert. Ohne die Mitarbeiter mit Behinderung, die hier eigentlich tagtäglich Computer, Kühlgeräte, Toaster und Co. fachgerecht auseinanderbauen, sind nur wenige Gruppenleiter und -helfer im Einsatz. Um den Elektro-Bergen Herr zu werden, helfen deshalb Angestellte aus dem ganzen Wetteraukreis in Stockheim mit.

Was notwendig ist

Statt in Töpfen zu rühren, hilft der Koch Lapillo Venanzio zurzeit in den Elektroaltgeräte-Entsorgungswerkstatt aus.

Statt in Töpfen zu rühren, hilft der Koch Lapillo Venanzio zurzeit in den Elektroaltgeräte-Entsorgungswerkstatt aus.

Lapillo Venanzio ist eigentlich Koch in den Hirzenhainer Werkstätten. Zusammen mit dem Küchenteam kocht er täglich für Schulen und Kindergärten in der Region ein frisches und gesundes Mittagessen. Jetzt aber wird er in der Werkstatt in Stockheim gebraucht. „Das ist mal etwas ganz anderes“, sagt er: „Da weiß man erst einmal, welche schwere Arbeit die Mitarbeiter hier machen!“

Auch in den Reichelsheimer Werkstätten werden die Kollegen gebraucht. Hier werden zum Beispiel Akten vernichtet. Und hier wird Brot und Besteck für Krankenhäuser verpackt. Normalerweise arbeitet Britta Schmidt-Bär in der Kita Sonnenschein in Friedberg. Jetzt sortiert sie kistenweise Löffel, Gabeln und Messer unter extremen Hygienebedingungen. Es ist warm, der Mundschutz unangenehm, die Arbeit nicht besonders fordernd. Spaß hat sie mit ihren Kollegen trotzdem. „Wir machen das Beste daraus. Jetzt ist es notwendig, dass wir hier unterstützen. Dann tun wir das eben“, meint Schmidt-Bär.

Leute und Abläufe kennenlernen

So sehen das auch die Beschäftigten aus den Tagesförderstätten, von denen zurzeit viele in den Wohneinrichtungen arbeiten. Jennifer Hruschka aus der Tagesförderstätte in Hirzenhain-Merkenfritz, Samantha Ilenser und Birgit Müller aus der Tagesförderstätte in Friedberg-Ockstadt sind in der Wohneinrichtung der bhw in Bad Salzhausen im Einsatz. Teilweise kennen sie die Bewohner aus den Werkstätten, teilweise lernen sie die Menschen neu kennen. „Die Arbeit im Wohnbereich ist eine ganz andere. Aber tagesstrukturierende Maßnahmen sind hier zurzeit für die Bewohner sehr wichtig. Wir helfen ihnen, sich den ganzen Tag zu beschäftigen“, sagt Ilenser.

Viele Angestellte aus den Tagesförderstätten sind momentan in den Wohneinrichtungen im Einsatz. So auch ein Team um Christine Winkler (vorne) im Prinzengarten in Gedern.

Viele Angestellte aus den Tagesförderstätten sind momentan in den Wohneinrichtungen im Einsatz. So auch ein Team um Christine Winkler (vorne) im Prinzengarten in Gedern.

Marius Kurz und Niko Becker, eigentlich aus der Tagesförderstätte in Ockstadt, waren zuerst in der Wohnanlage in Butzbach eingesetzt und unterstützen nun die Kollegen im Prinzengarten in Gedern. Sie haben noch mehr Leute kennengelernt, Klienten ebenso wie Kollegen. Niko Becker findet es spannend, so auch einen Einblick in das Privatleben der Klienten zu erhalten. Berenika Vasilukova, auch aus der Tagesförderstätte in Ockstadt, kommt nun auch nach Gedern. Der Weg ist schon sehr weit, aber sie fühlt sich im Prinzengarten wohl. „Die Kollegen haben sich sehr dafür eingesetzt, dass ich weiterhin hier arbeite. Das hat mich wirklich berührt“, betont sie. Denn es war vorgesehen, dass sie nach kurzer Zeit im Prinzengarten in die Wohneinrichtung nach Ockstadt geschickt wird. Birgit Schneider, die eigentlich in der Tagesförderstätte in Merkenfritz arbeitet, ist in den Prinzengarten zurückgekehrt. Sie hat vor Jahren ihre Karriere bei der bhw hier begonnen. „Ich habe mich gefreut, viele Leute wiederzusehen, die hier wohnen und nicht in den Hirzenhainer Werkstätten arbeiten. Und alle haben sich gefreut, mich wiederzusehen“, sagt sie.

 

 

Neuer Blickwinkel

Viele, die jetzt an anderen Orten arbeiten, die Kollegen kennenlernen, mit denen sie sonst wenig zu tun haben oder nur telefonieren, die Arbeitsabläufe in anderen Bereichen mitmachen, sehen den Vorteil, dass sie die bhw zurzeit ganz neu erleben. Sie wechseln die Perspektive, erfahren Bedarfe und Herausforderungen anderer Bereiche. Werkstatt- und Tagesförderstätten-Angestellte lernen die Abläufe in den Wohneinrichtungen kennen. Die Fachkräfte im Wohnen erleben täglich neu, wie wichtig für die Menschen mit Behinderung die Arbeit ist. „So entsteht ein ganz neues Verständnis füreinander“, erklärt Christine Winkler. Auch sie hat durch Corona eine neue Aufgabe erhalten: Eigentlich leitet sie die Tagesförderstätten der bhw. Da die zurzeit nicht betreten werden dürfen, übernahm Winkler kurzerhand die vakante Leitungsposition im Prinzengarten in Gedern. „Alle erleben einen Perspektivwechsel“, äußert auch Florian Peifer, der die Werkstätten in Stockheim und Reichelsheim leitet.

Keine Betriebsgrenzen

Die Personalabordnungen machen aber nicht an den Toren der bhw Halt. „Dadurch dass die Mitarbeiter nicht in den Werkstätten sind, haben wir Personalkapazitäten frei, die wir auch anderen Trägern angeboten haben“, erklärt Eva Reichert, Geschäftsführerin der bhw. Drei Angestellte haben ihren derzeitigen Einsatzort in der Vitos Teilhabe GmbH gefunden. Sie unterstützen die Kollegen in einer Wohngruppe, in der viele Menschen leben, die tagsüber normalerweise eine Tagesförderstätte der bhw besuchen. „Für unsere Bewohner ist das eine Bereicherung. Sie werden von vertrauten Personen betreut. Und unsere Mitarbeiter werden dadurch entlastet“, sagt Tom Wäsche, Regionalleiter der Vitos Teilhabe GmbH. Er sieht auch den positiven Effekt für die Zukunft: „Da die Angestellten sich jetzt persönlich kennen, wird auch später ein intensiverer Austausch zwischen Wohnen und Tagesstruktur stattfinden“, glaubt Wäsche: „Ich freue mich über die unbürokratische und schnelle Kooperation mit der bhw.“

Alle sind flexibel, alle zeigen enormen Einsatz. „Auch ich erlebe die bhw aus einem neuen Blickwinkel“, bestätigt Geschäftsführerin Eva Reichert. Sie dankt allen Angestellten dafür, dass sie in der momentanen Situation bereit sind, von den üblichen Wegen abzuweichen, sich gegenseitig zu unterstützen und dadurch das Unternehmen langfristig sichern. „Viele sehen die Notwendigkeit der aktuellen Maßnahmen, die zwei wichtigen Zielen dienen. Erstens haben wir keine Kurzarbeit und wollen sie auch möglichst vermeiden. Bisher konnten wir alle durch die Corona-Krise frei gewordenen Personalkapazitäten an anderer Stelle auffangen. Die Kollegen in den Wohneinrichtungen werden durch die Kollegen aus dem Werkstattbereich gut unterstützt“, erläutert Reichert. Außerdem können die Werkstätten ohne die Menschen mit Behinderung nicht gänzlich still stehen. „Wir sehen uns als modernen Dienstleister. Unsere Kunden können sich auch in dieser Krisenzeit auf uns und die Qualität unserer Arbeit verlassen“, so Reichert weiter. „Die Aufträge sichern uns einerseits Einnahmen, die für das Unternehmen überlebenswichtig sind. Andererseits brauchen wir langfristig die Aufträge, um für unsere Mitarbeiter mit Behinderungen weiterhin gute Arbeit anbieten zu können.“ Denn irgendwann wird das Betretungsverbot gelockert. Dann kommen die Mitarbeiter wieder und die bhw kehrt zurück in die Normalität.